Wieder eine Evakuierung. Der Weg nach Hause führt über die kaputten Straßen von Sivershchyna. Wir fahren langsamer als sonst, denn wir haben die 94-jährige Zinaida an Board

Wieder eine Evakuierung. Der Weg nach Hause führt über die kaputten Straßen von Sivershchyna. Wir fahren langsamer als sonst, denn wir haben die 94-jährige Zinaida an Board – und jedes Schlagloch bereitet ihr Schmerzen. Trotz ihres hohen Alters und der dramatischen Situation – sie hat gerade ihr Zuhause verlassen – lächelt Zinaida und beginnt zu sprechen. Ich meide bewusst das Thema Krieg und frage sie nach ihrer Familie und ihrem früheren Leben, doch erfolglos. Die 1928 geborene Frau kommt von sich aus darauf zu sprechen. Sie erinnert sich, wie die sowjetischen Soldaten die Einwohner:innen zwangen, Schützengräben auszuheben, wie sie in der Nähe der Gräben ihr Vieh weiden ließ und wie eine dieser Kühe einmal angeschossen wurde.
Ich komme nicht umhin, das schöne Ukrainisch zu bemerken, das Zinaida spricht. Es ist, als wäre ich jedes Mal überrascht, wenn ich die ukrainische Sprache in der Region Donezk höre. Einerseits bin ich ein Opfer des von Russland aufgezwungenen Stereotyps, andererseits verstärke ich es selbst.
Zinaida wählte die ukrainische Sprache
Zinaidas Mutter war eine Russin, die nach der Hochzeit in die Ukraine zog. Zinaidas Vater stammte aus der Region Kiew und sprach Ukrainisch. “Mama, warum sprichst du nicht unsere Sprache?”, fragte Zinaida, als sie ein Kind war. Während ich ihre Geschichte höre, empfinde ich mehr und mehr Mitgefühl für diese Frau. Sie hat sich bewusst für die ukrainische Sprache – und die ukrainische Identität – entschieden, nicht wegen, sondern trotz ihrer familiären und sozialen Umstände.
Von Zeit zu Zeit huscht ein Lächeln über Zinaidas Gesicht, wenn sie sich an ihre verlorene Familie erinnert: an ihre früh verstorbene Mutter, an ihren Vater, der wieder heiratete und eine neue Familie gründete, an ihren vor 30 Jahren verstorbenen Mann und an ihren viel zu früh verstorbenen Sohn.
“Werden sich gute Menschen um mich kümmern?”, fragt Zinaida über das Heim, in dem sie von nun an leben wird. “Ja, natürlich werden sie das”, antworte ich zuversichtlich. Aber woher soll ich das wissen? Mein Teil der Aufgabe – die Frau sicher aus dem Kriegsgebiet zu bringen – ist erledigt. Ihr weiteres Schicksal liegt in den Händen von Menschen, die weder sie noch ich jemals zuvor getroffen haben. Ich kann nur hoffen, dass Zinaida den Rest ihres Lebens in Frieden verbringen wird, umgeben von der Liebe und Fürsorge, die sie verdient.
Wir Ukrainer:innen haben genug Gründe, die Russen zu hassen, die Liste ist endlos. Aber das Leiden unserer Großeltern, ihr verlorener Seelenfrieden anstelle eines friedlichen Alters, nehmen einen besonderen Platz auf dieser Liste ein.

